Eins
Langsam tauchte ich auf. Oben angekommen, holte ich Luft, um gleich wieder in die Tiefe des Sees gleiten zu können. Ich warf einen kurzen Blick zur Liegewiese und traute meinen Augen nicht: Saß da wirklich ein Kind auf meinem Badetuch? Ich schwamm zum Ufer, ging zu dem kleinen Handtuchbesetzer. Es war ein Junge mit langen, blonden Locken. Hallo, wer bist denn du? fragte ich, und er strich sich die Haare ins Gesicht, weil er wohl glaubte, sich auf diese Weise vor mir verstecken zu können. Ich wollte ihm erklären, dass ich nicht gekommen sei, um ihn zu vertreiben, aber bevor ich das sagen konnte, sprang er zur Seite, umkreiste das Tuch und ließ sich dann auf den Rasen fallen, direkt neben meine Klamotten. Er musste drei oder vier Jahre alt sein. Hast du keinen Namen? fragte ich, bekam aber keine Antwort. Stattdessen quakte er wie ein Frosch und hüpfte umher. Ich legte mich hin und schloss die Augen. Die Sonne schien. Es roch nach Pommes. Wassertropfen liefen über meine Haut. Ich hatte das Gefühl, gestreichelt zu werden. Als ich die Hand des Jungen auf meinem Bauch sah, erschrak ich. Der Junge lachte. Hell und laut.
Ich heiße Jan, sagte ich. Und du? Wieder keine Antwort. Ich schaute nach links und rechts; niemand schien ihn zu vermissen. Hier neben mir saß eine ältere Dame mit Sonnenhut, die eine Zeitschrift las. Dort drüben küsste sich ein Pärchen. Kinder liefen umher und spielten am Ufer des Sees. Ein dickliches Mädchen mit Schwimmflügeln sprang ins Wasser, ein hagerer Mann beobachtete sie. Ob das ihr Vater war? Er sah ihr nicht ähnlich. Plötzlich rief die Kleine: Papa, wann kommst du endlich? Es zog wieder eine Pommesduftwolke vorbei, und nun machte sich auch der Junge neben mir bemerkbar. Riecht gut, sagte er. Und lachte wieder. Hell und laut. Ich lachte mit. Du suchst wohl jemanden, der dir eine Portion Pommes ausgibt? Wo ist denn dein Papa? fragte ich. Der Junge schüttelte heftig den Kopf, starrte mit heruntergezogenen Mundwinkeln auf die ausgetrocknete Wiese. Seine Bewegungen wurden heftiger, und ich fragte mich, ob ich etwas Falsches gesagt hatte. Ich wollte sowieso zur Pommesbude gehen, behauptete ich. Komm doch mit, ich spendiere dir gerne eine Portion! Der Junge ließ sich aber nicht beruhigen, im Gegenteil, nun schlug er sich mit der flachen Hand auf den Bauch. Tränen liefen ihm über die Wangen, und seine Hand klatschte heftiger und heftiger auf die längst gerötete Haut. Hör auf damit, sagte ich streng, und die Dame mit Sonnenhut schaute mich an, als wollte sie sagen, das kommt davon, wenn man die Kinder nicht richtig erzieht. Ich hielt den Jungen am Arm fest, aber er riss sich los und schlug wieder zu. Wenn er doch wenigstens schreien würde, dachte ich. Sein tonloses Heulen, das die klatschenden Schläge begleitete, machte mich so ratlos, dass ich aufstand und versprach, gleich mit den Pommes zurückzukehren, aber ich hätte ihm wahrscheinlich alles versprechen können, er hätte sich trotzdem nicht beruhigt. Ich schaute auf den See und sagte mir: Soll er sich doch schlagen, ich bin nicht für ihn verantwortlich. Nach einer Weile stand ich auf, kam mir allerdings wie ein Feigling vor, auch weil ich hoffte, er werde nicht mehr da sein, wenn ich zurückkehrte, und so lief ich mit einem schlechten Gewissen zur Pommesbude, reihte mich in die Warteschlange ein, drehte mich nicht um, obwohl ich neugierig war. Er war bestimmt schon abgehauen. Oder doch nicht? Wieder versuchte ich mir einzureden, ich müsse mich nicht um ihn kümmern, weil ich nicht sein Vater war, doch meine Ausreden kamen mir bald schäbig und verlogen vor, denn so gleichgültig war mir dieses Kind auch wieder nicht, zumal ich mich jetzt fragte, ob es einen Unterschied machte, dass der Junge nicht mein Sohn war.
Ketchup oder Mayo? rief die Frau in der Pommesbude, aber ich wusste keine Antwort. Dass ich nur mit den Schultern zuckte, statt irgendwas zu sagen, lag auch an dem penetranten Geruch des Bratfetts. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Mir wurde übel, und der Typ hinter mir beschwerte sich, ich solle mich doch bitte mal entscheiden. Ketchup oder Mayo? Beides, sagte ich schließlich, reichte der Pommesfrau einen Fünfeuroschein, trat zur Seite, um endlich einen Blick in Richtung des Jungen zu wagen. Doch von hier aus konnte man nicht erkennen, ob er noch da war. Ich hatte ihn im Stich gelassen. Auch wenn ich ihn nicht kannte, hätte ich mich sehr wohl um ihn kümmern müssen, auf jeden Fall hätte ich nicht weggehen dürfen. Mir wurden die Pommes gereicht. Wieder stieg der starke Frittiergeruch in meine Nase. Was hatte der Junge wohl durchgemacht, um sich so zu verhalten? Ihr Wechselgeld, sagte die Pommesfrau, aber da war ich schon auf dem Rückweg, rannte zu meinem Badetuch, und weil der Junge verschwunden war, schaute ich hektisch in alle Richtungen. Auch im Wasser war er nicht. Ich eilte zu den Umkleidekabinen, wo er sich hätte verstecken können, aber das kam mir, kaum war ich dort, vollkommen abwegig vor, also ging ich zu der Dame mit dem Sonnenhut, aber sie verstand mich nicht, und auch ich verstand sie nicht. Sie war wohl Russin. Ich eilte zum nächsten Mülleimer und warf die Pommes weg, was mein schlechtes Gewissen verstärkte, aber ich konnte die Pommes unmöglich essen, so unwohl war mir. Ich kehrte zu meinen Klamotten zurück, legte mich hin und merkte, wie verschwitzt ich war. Wieder liefen Tropfen über meine Haut, doch dieses Mal war es äußerst unangenehm. Ich fror, obwohl es heiß war, bekam eine Gänsehaut und versuchte, die aufgestellten Haare und vielen kleinen Hauterhebungen glatt zu streichen, was mir aber nicht gelang. Ich dachte an den Jungen, der seine Hand auf meine Haut gelegt hatte, und ich ärgerte mich, dass ich mich kaum erinnern konnte, wie er aussah. Waren seine Locken dunkelblond oder eher hellbraun? Und seine Augen? Blau? Ich hatte keine Ahnung. Er war aus meinem Gedächtnis verschwunden, und doch schien er anwesend zu sein; es kam mir vor, als zerrte er an mir, wie ich an seinem Arm gezerrt hatte, als verfolgte er mich, ohne sich zeigen zu wollen. Ich hörte sein Lachen. Hell und laut. Ich schlenderte zum Badesteg und sprang mit einem weiten Satz ins Wasser.
Als ich meinen Körper in die Tiefe sinken ließ und die Augen öffnete, meinte ich auf dem Seegrund das Gesicht des Jungen zu erkennen, ohne Augen und ohne Haare, die Wangen eingefallen; kein Mensch, sondern ein Monster war das. Ich tauchte wieder auf, blickte zum Ufer und sah, dass erneut jemand auf meinem Badetuch saß, aber es war nicht der Junge, sondern Nina. Ich schwamm zurück, obwohl ich gerne noch im Wasser geblieben wäre, aber Nina hatte mich längst entdeckt und winkte mir zu. Kaum hatte ich das Ufer erreicht, überfiel mich wieder der Fettgestank. Sofort dachte ich an den Jungen; ich schaute mich um, aber er war nicht zu sehen. Zwei Kinder bewarfen sich mit Sand, und als sie einander trafen, brüllten sie los; ich bekam Kopfschmerzen, sodass ich am liebsten nach Hause gegangen wäre, was Nina gleich bemerkte, denn bevor wir uns umarmten, fragte sie mich, was denn los sei, ob ich mich nicht freue, sie zu sehen, und dann erzählte ich von dem Jungen, und sie schien mir nicht zu glauben. Hast du immer noch Angst, Papa zu werden? fragte sie belustigt, was mich ärgerte, denn der Junge hatte ja nichts mit unserem Baby zu tun, und das wollte ich ihr auch sagen, doch dann nahm Nina meine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Angst? Es wird vieles anders werden, sagte ich. Nina lachte, und ihr Lachen war so fröhlich, dass ich sie in den Arm nahm. Ich strich über ihre kurzen schwarzen Haare, die in der Sonne wunderbar künstlich aussahen, so seidig und dicht waren sie. Keine graue Strähne störte den akkurat frisierten Bubikopf. Ich küsste sie und sagte: Die Schwangerschaft hat dich noch schöner gemacht. Ach, wirklich? entgegnete sie. Ich wollte meinen Eindruck nicht begründen. Ich saß da und schwieg. Nina sagte nach einer Weile, sie werde sich, wenn das Kind auf der Welt sei, eine Nähmaschine zulegen. Wie kommst du denn darauf? fragte ich. Sie habe, erklärte sie, immer schon mal die eigenen Hosen und Hemden schneidern wollen, und bald könne sie nicht nur für sich, sondern auch für das Baby etwas nähen, eine bunte Kuscheldecke vielleicht, die es nirgendwo zu kaufen gebe. Ja, flüsterte Nina, ich freue mich auf die Veränderungen. Ihre Stimme wirkte wie ein Beruhigungsmittel. Meine Kopfschmerzen ließen nach, obwohl der Lärm zunahm.
In der Nähe des Badesees lag ein Flughafen, den man zwar nicht sehen, aber gut hören konnte, und immer wenn eine größere Maschine startklar war, heulten die Turbinen so laut auf, dass sogar das Kindergeschrei im Flugzeuglärm unterging. Das geschah nicht oft, vielleicht zehnmal am Tag; es war ein kleiner Flughafen, den die Billigflieger nutzten. Ich kannte Eltern, die den Badesee der Abgase wegen mieden, aber mir kam diese Vorsicht übertrieben vor, zumal ich das Schauspiel mochte, wenn wie jetzt am anderen Ende des Sees, über den Büschen und Bäumen, ein Jumbojet in die Höhe schoss. Das Turbinengeräusch vermischte sich mit dem Badeseelärm, mit dem Kreischen der Kinder und dem Schlagzeug eines Liedes, das aus einem Radiorekorder wummerte. Ein Junge mit großer Sonnenbrille nutzte die Gelegenheit des Flugzeugstarts und drehte die Musik noch lauter, und sein Freund schien den Liedtext mitzugrölen. Ich verstand nichts, fühlte mich aber an meine eigene Jugend erinnert, als ich mit Musik in den Ohren am Badesee lag. Strange day. The Cure. Das war so ein Badesee-Song. Ich konnte den Text immer noch auswendig. I remember a song / An impression of sound / Then everything is gone / Forever / A strange day. Wohin die wohl fliegen? fragte Nina, als der Flugzeuglärm leiser wurde und auch die feixenden Jugendlichen die Lautstärke des Rekorders drosselten. In den Sommerurlaub, sagte ich. Raus aus dem Alltag. Möchtest du, ging sie dazwischen, noch mal verreisen, bevor wir ...? Sie stockte, schien nachzudenken. Nach einer Weile sagte sie: Auch ich habe Angst. Erst konnte ich kaum glauben, was ich gehört hatte. Nina und Angst? Sie hatte sich das Kind gewünscht, hatte mich überredet, irgendwie auch überzeugt. Du weißt nicht, was du verpasst, hatte sie erklärt, als ich ihr mal sagte, ich sei damit zufrieden, für Grete und Leonie so etwas Ähnliches wie ein Papa zu sein. Seit sie schwanger war, redeten wir nicht mehr über meine Ängste. Ihr Glück und ihre Zuversicht machten auch mich glücklich und zuversichtlich. Meistens jedenfalls. Abends saßen wir stundenlang auf dem Sofa. Hand in Hand. Ohne etwas zu sagen. Ich erwähnte nicht mehr den Ärger im Büro, weil ich sie damit nicht belasten wollte, und Nina schien es zu genießen, dass ich mal keine Zweifel anmeldete. Ich nahm das Schweigen mit ins Bett, konnte schlecht einschlafen, wachte in der Nacht mehrmals auf und war am Morgen meistens so müde, dass ich mir kaum eine Meldung merken konnte, die im Radio lief. Die Morgennachrichten hatten mal zu unserem Frühstücksritual gehört: Wir diskutierten die Reihenfolge der Schlagzeilen, griffen eine Meldung heraus und sprachen darüber. Nun war das Radio zwar eingeschaltet, aber wir schwiegen am Frühstückstisch. Mir war schon klar, dass man Glück nicht in Worte zu fassen brauchte. Doch was würde mit uns geschehen, wenn wir im entscheidenden Moment den Mund nicht aufbekämen? Würden wir verschweigen, was uns beschäftigte? Es war gut, dass Nina hier am See von ihren Ängsten erzählte, auch wenn es mich beunruhigte, dass ausgerechnet sie, die immer so zuversichtlich war, nun Angst haben sollte. Als ich sie an mich drückte, überlegte ich, ob das der Moment sei, auch über den Ärger im Büro zu reden, ich entschied mich aber dagegen und sagte, ich würde mich sehr freuen, noch einmal zu verreisen, vielleicht zwei, drei Tage nach London. Ja, sagte Nina. Am besten nach dem Termin bei Dr. Langenfeld. Ich entgegnete: Welchen Termin meinst du?
Nächsten Mittwoch, sagte sie, Babyfernsehen, dieses Mal dreidimensional und in Farbe. Habe ich nicht davon erzählt? Nein, gab ich zurück. Heißt deine Frauenärztin nicht Pietsch? Doch, doch, sagte Nina. Und sie meint, wir sollten das Baby von einem Spezialisten untersuchen lassen, sie habe nicht das entsprechende Ultraschallgerät. Außerdem würde Langenfeld den neuen Bluttest durchführen. Ich entgegnete: Welchen Bluttest? Und sie schaute mich an, als hätte ich eine vollkommen abwegige Frage gestellt. Den Test, sagte sie, den jetzt alle machen. Willst du nicht wissen, ob unser Baby gesund ist? Ich schaute dem Flugzeug hinterher, das sich immer weiter entfernte, und als es im Himmel verschwand, hatte ich das Gefühl, ich werde so bald nirgendwohin fliegen. In meinem Kopf breiteten sich die Gitarren, das Schlagzeug, die Stimme, der wehmütige Klang von The Cure weiter aus: An impression of sound / Then everything is gone / Forever / A strange day. Gibt es einen Grund, warum uns deine Frauenärztin zum Spezialisten schickt? fragte ich. Du musst auch immer vom Schlimmsten ausgehen! beschwerte sich Nina kopfschüttelnd. Sie freue sich aufs Babyfernsehen. Und mit dem Bluttest seien wir auf der sicheren Seite. Übrigens, ergänzte sie mit gedämpfter Stimme, Dr. Langenfeld wird uns bestimmt auch verraten können, ob wir ein Mädchen oder einen Jungen bekommen. Ich wette, und Nina lächelte, als sie das sagte, ich wette, es wird ein Junge.