Reise in die Vergangenheit
Kuballa hatte sich zu einem mürrischen Eigenbrötler entwickelt. Das Jahr fünfundneunzig war das entscheidende Jahr, sozusagen das Wendejahr in seinem, wie er sagte, Schweineödeabenteuer; fast fünf Jahre wohnte er nun schon in dem ehemaligen Arbeiterbezirk, in dieser vergessenen Ecke Ostberlins. Und nicht nur Kuballa hatte sich verändert, sondern auch seine Umgebung. Schöneweide verlor endgültig, wie Kuballa meinte, seinen Ostcharakter, und diesen Wandel hätte er am liebsten aufgehalten. Ich bin doch nach Schweineöde gekommen, sagte er, um den Osten zu erleben und nicht die vom Westen finanzierte Umgestaltung. Kuballa hielt die Veränderungen in Schöneweide für eine Strafe der späten Geburt, und als seine Eltern von Kuballas merkwürdigem Konservatismus erfuhren, meckerten sie über seine morbide Einstellung zum Leben und sagten, daß er nicht mehr ganz normal sei.
Kuballa registrierte jede Kleinigkeit, die sich in Schöneweide veränderte. Und je weniger der Ort nach Osten aussah, desto intensiver vergrub sich Kuballa in eine Geisterwelt, in der es zuging, als sei die Berliner Mauer nie abgerissen worden; er versank in die Welt der realsozialistischen Staatssicherheitsspionage. Er wollte herausbekommen, wie dieses Überwachungssystem funktioniert hatte. Und er glaubte, er könne seinem Ziel nur näher kommen, wenn er sich mit dem Gegenstand seiner Begierde restlos identifizierte.
Keinen Fernsehfilm ließ er aus, in dem es um die Staatssicherheit ging. Und da es Mitte der neunziger Jahre richtig in Mode war, darüber Filme zu drehen, hing Kuballa fast jeden Abend vor dem Fernseher. Kuballa informierte sich über die Schicksale ehemaliger Staatssicherheitsmitarbeiter, und natürlich wußte er bald, wo diese Leute noch immer ihr Unwesen trieben. Natürlich in der Sicherheitsbranche.
Kuballa besorgte sich Bücher über das weltweite Agentennetz der Deutschen Demokratischen Republik, und er kaufte auf einem Flohmarkt eine vollautomatische Brieföffnungsanlage, mit der die Staatssicherheit die Post ihrer Bürger kontrolliert hatte. Er hatte noch nie ein Bügeleisen besessen. Nun kaufte er sich eines, weil ihm zu Ohren kam, daß die Postkontrolle damit die geöffneten Briefe wieder verschlossen hatte.
Kuballa wurde zum besten Kunden der Niederschöneweider Buchhandlung, weil er dort Bücher zur Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit bestellte, Bücher über die Zentrale Koordinierungsgruppe, über die Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung, über die Terrorabwehr und Spionageabwehr, über Isolierungslager und über das geheimdienstliche Datennetz des östlichen Bündnissystems. Seine Regale waren bald überfüllt, und so stellte er die neuen Staatssicherheitsbücher vor seine gesammelten Romane, die bislang den Löwenanteil seiner Buchsammlung ausgemacht hatten.
Damit die Romane mich nicht ablenken, dachte Kuballa.
Getreu dem Motto seiner neuen Geistesgenossen, daß einer, der alles wisse, auch alles beherrsche, legte er umfangreiche Karteikästen an; es war ein Glossar des Grauens. Von AOP gleich Archivierter Operativer Vorgang bis ZI gleich Zelleninformator war in diesem Archiv so gut wie jeder Fachbegriff verzeichnet, den Kuballa in den vielen Büchern über die Staatssicherheit finden konnte. Er lernte die Abkürzungen sogar auswendig. Saß er auf dem Klo, beschäftigte er sich mit Abkürzungen, die er noch nicht kannte; bei Küchenarbeiten sagte er Abkürzungen auf, die ihm schon einmal untergekommen waren, die er aber noch immer nicht ohne langes Nachdenken abrufen konnte, und vor dem Schlafengehen ging er noch einmal alle Abkürzungen durch, die er bislang in seinem Karteikasten archiviert hatte.
»DB gleich Durchführungsbestimmung, DV gleich Dienstvorschrift, EV m. H. gleich Ermittlungsverfahren mit Haft, EV o. H. gleich Ermittlungsverfahren ohne Haft, OPK gleich Operative Personenkontrolle.«
Früher hatte Kuballa über den Abkürzungswahn in der Deutschen Demokratischen Republik gemeckert, hatte den Realsozialismus eine Abkürzungsideologie genannt, mittlerweile machten ihm die vielen Abkürzungen uneingeschränkte Freude. Perfektes Herrschaftswissen nannte er sein Abkürzungsarchiv, und Kuballa glaubte, sein Wissen wirklich perfekt zu beherrschen: Er formulierte Lernziele, und er hielt sich penibel an seine Vorgaben. So ordnete Kuballa den Kalendertagen bestimmte Buchstaben des Alphabets zu. Am siebten Kalendertag eines Monats rezitierte er beispielsweise nur Staatssicherheitsabkürzungen mit dem Anfangsbuchstaben G:
»GHI gleich Geheimer Hauptinformator, GM gleich Geheimer Mitarbeiter, GMS gleich Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit, GTW gleich Gefangenentransportwagen ...«
In Kuballas Welt erwachte das untergegangene Spitzelreich von den Toten; er traf sich mit den Fälschergrößen Berlins und bat sie um Mithilfe; er legte sich neue Pässe zu und kaufte Stempelsammlungen; er übte, Schriften zu analysieren, er legte Geruchsproben an, beispielsweise von den Kolbs; er plante, so nannte er das, prophylaktische Ermittlungen; er schrieb auf, was bei einer professionellen Hausdurchsuchung alles zu bedenken sei; er beschäftigte sich mit Maßnahmen zur Desinformation, er schrieb seinen Nachbarn böse anonyme Briefe, in denen er ihr angeblich rowdyhaftes Auftreten rügte; er brachte seinen vollautomatischen Brieföffner zum Einsatz und untersuchte die Post seiner Nachbarn, er baute Wanzen in fremden Wohnzimmern ein, er überwachte die Telefonate der Händler in der Rathenaustraße; er kaufte sich Videoanlagen, die er in sämtlichen Vogelhäuschen in Oberschöneweide installierte; am liebsten hätte er auch konspirative Arbeitsplatzdurchsuchungen angeordnet, öffentliche Zuführungen und geheime Verhöre. Doch den ruppigen Vernehmer spielte er nur in seiner Wohnung. Und immer ohne Häftlinge. Er verlas lange Anklageschriften vor einem imaginären Publikum, er sprach davon, daß Sicherheit vor Recht gehe, daß jeder ein potentielles Sicherheitsrisiko sei, und daß er, Raimund W. Kuballa, das Erbe der Staatssicherheit angetreten habe, daß er dem Schild und Schwert der Partei alle Ehre machen werde. Er schlich nachts um die Häuser, um feindlich-negative Kräfte auszuspähen, wobei diese nächtlichen Erkundungen eher erfolglos blieben.
»Ich brauche Mitarbeiter, viele, ein ganzes Heer von Mitarbeitern«, brüllte Kuballa eines Abends, als er in der Badewanne saß. In der Nachbarwohnung hörte sich sein Geschrei eher als schräger Gesang an, so als wolle er sich und der Welt beweisen, daß er, Raimund W. Kuballa, der Kapitän in seiner Badewanne sei.
Kuballa hatte aufgegeben, über sein Verhalten ernsthaft nachzudenken. Er hätte sich darüber ja auch amüsieren können. Aber er hielt seine, so nannte er das, Arbeit am Menschen für eine todernste Angelegenheit. Und so nahm er sich tatsächlich vor, Mitarbeiter zu rekrutieren. Er schrieb seitenlange Anforderungsprofile für seine zukünftigen Untergebenen. Dann prüfte er, ebenfalls schriftlich, ob denn seine Nachbarn seinen Anforderungen genügten.
Nachbar Überreiter, schrieb er beispielsweise, sei weder anpassungsfähig, noch sei ihm die Fähigkeit zur Konspiration anzumerken. Herr Überreiter lasse positive, charakterlich-moralische Eigenschaften vermissen, wie zum Beispiel Treue, Vertrauen und Ergebenheit, Einsatzbereitschaft und Opferwillen, Mut und Disziplin sowie bedingungsloses Kämpfertum und Standhaftigkeit. Herr Überreiter sei im Sinne der Sicherheit gänzlich untauglich und demnach eine Gefahr.
Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, dachte er. Wer gegen mich ist, ist ein Feind, und Feinde werden ausgeschaltet.
In Schöneweide fand Kuballa keinen einzigen Menschen, der seinen Ansprüchen genügte. Und anderswo auch nicht.
Feind Nummer eins wurde, wie nicht anders zu erwarten war, der Herr Überreiter. Kuballa terrorisierte ihn. Er bestellte in seinem Namen Taxis und Schlüsseldienste, Abschleppdienste, Fensterputzer, Möbeltransporter, Kammerjäger; er buchte Reisen und orderte beim Pizzaservice mehrgängige Menüs für seinen verhaßten Nachbarn. Herr Überreiter war tagelang damit beschäftigt, die angeforderten Dienstleistungen rückgängig zu machen. So beschäftigt war der arbeitslose Herr Überreiter wahrscheinlich die vergangenen zehn Jahre nicht mehr gewesen.
Zersetzungsmaßnahmen nannte Kuballa seine Übergriffe. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er, wie er es in seinen Büchern über die Staatssicherheit gelesen hatte, auch berufliche und gesellschaftliche Mißerfolge organisiert. Doch bei Herrn Überreiter war das sowieso nicht mehr nötig. Er war, so oder so, eine ruinierte Person.
Kuballa kürte sich zum Leiter des Wachregimentes Felix Edmundowitsch Dzerziensky; er schrieb Lobeshymnen auf die Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage, er ließ sich in seinen Träumen als obersten Tschekisten feiern.
Ich bin, träumte er, der Geheimdienstminister, ich bin der oberste Personenkontrolleur, ich liebe die Menschen doch alle, und weil das Lieben und Leben der Menschen nicht so einfach ist, muß ich einen kühlen Kopf behalten, ein heißes Herz, saubere Hände, ich muß so klar sein wie ein Kristall. Ich muß unbesiegbar sein. Ich bin unbesiegbar. Ich kämpfe, weil ich die Menschen liebe. Konterrevolutionäre und Faschisten bekämpfe ich. Mit dem Gesocks mache ich kurzen Prozeß. Denen werde ich mich niemals unterwerfen. Ich werde lieber stehend sterben als kniend weiterleben.
An der Wand über seinem Bett hing eine Fahne, auf der zu lesen war, was Kuballa in dieser Periode seines Lebens das größte Gefühl auf Erden nannte.
Haß, intensives und tiefes Gefühl, das wesentlich das Handeln von Menschen mitbestimmen kann. Im gesellschaftlichen Leben ist der Haß der emotionale Ausdruck der unversöhnlichen Klassen- und Interessengegensätze zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie. Der Klassenhaß ist ein wesentlicher, bestimmender Bestandteil der tschekistischen Gefühle, eine der entscheidenden Grundlagen für den leidenschaftlichen und unversöhnlichen Kampf gegen den Feind. Haß ist ein dauerhaftes und stark wirkendes Motiv für das Handeln. Er muß daher auch in der konspirativen Arbeit als Antrieb für schwierige operative Aufgaben bewußt eingesetzt werden.
Kuballas verdrehter Klassenhaß (er, der Bourgeois, jagte den arbeitslosen Arbeiter Überreiter) war so gefühlsecht wie die Kondome, die in der Deutschen Demokratischen Republik verteilt wurden.
Als Kuballa meinte, alles über die Staatssicherheit und über sein Einsatzgebiet Oberschöneweide zu wissen, als er davon ausging, alle feindlich-negativen Kräfte zu konrollieren, plante er seine nächste Operation.
Er füllte einen Antrag aus, einen, so hieß es im korrekten Amtsdeutsch, Antrag auf Auskunft, Einsicht sowie Herausgabe von Kopien aus Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Das war am achtundzwanzigsten August siebenundneunzig, an jenem Tag also, an dem Egon Krenz wegen der Toten an der Mauer zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Der Genosse Staats- und Parteichef außer Amt, dachte Kuballa, kann einem wirklich leid tun.
Das Urteil schreckte ihn keineswegs ab; Kuballa betrieb sein Staatssicherheitsgeschäft weiter, wobei er jetzt eine Bestätigung von außen suchte, eine Bestätigung, die ihm neue Kraft verleihen sollte. Kuballa glaubte, daß einer, der so fähig zur Konspiration sei wie er, schon in früher Jugend die besten Aussichten gehabt haben müsse, eines Tages auserwählt zu werden. Und deshalb vermutete er, daß umfangreiche Unterlagen über ihn in den Archiven der Staatssicherheit lagerten.
Die werden mein Talent, dachte er, bestimmt entdeckt haben.
Leider brauchte die Behörde einige Wochen, um Kuballas Antrag zu bearbeiten, was der ungeduldige Antragsteller allerdings nicht einsah. Tag für Tag nervte er die Damen in der Behördenauskunft. Er rief sie an, er kam auch selbst vorbei. Die Damen vertrösteten ihn. Er kam wieder. Und wieder umsonst.
Eines Tages erhielt Kuballa Post von der Behörde. Er riß den Umschlag auf und war enttäuscht. Es war nur eine Eingangsbestätigung seines Antrags. Ohne Anrede. Ohne Unterschrift.
Zur weiteren Bearbeitung, hieß es da, werde der Antrag unter einer Aktennummer registriert. Null. Vier. Zwei. Fünf. Neun. Sechs. Und der Brief schloß mit der Bemerkung, daß aufgrund der vielen Schreiben, die täglich eingingen, von weiteren schriftlichen oder Telefonischen Anfragen abzusehen sei.
Kuballa hielt sich keineswegs an diese Maßgabe. Weiterhin fuhr er so oft wie möglich zu der Aktenbehörde, so daß die Sekretärinnen, die sich über den aufdringlichen Antragsteller ärgerten, ihm vorschlugen, seinen Informationshunger auf andere Weise zu stillen; er könne doch, sagten sie, eine Führung durch die ehemaligen Arbeitszimmer des Ministers für Staatssicherheit mitmachen, sich überhaupt mal dieses fürchterliche Areal hier in der Normannenstraße etwas genauer anschauen.
»Haben Sie schon die Wandbilder im U-Bahnhof Magdalenenstraße gesehen?« fragte eine Frau Jung, die für die besonders hartnäckigen Antragssteller zuständig war.
»Nein«, antwortete Kuballa.
»Die hat der Professor Wolfgang Frankenstein gemalt«, sagte sie.
Bestimmt ein Staatssicherheitsmaler, dachte Kuballa. Was der wohl heute macht?
»Wissen Sie, wie wir seinen Wandbildbahnhof dort unten in der Magdalenenstraße genannt haben?«
»Nein.«
»Frankensteins Gruft haben wir den Bahnhof genannt. Weiß heute aber kaum einer mehr. Ist vergessen worden. Waren Sie denn wirklich noch nicht in den Arbeitsräumen vom ollen Mielke?«
»Nein.«
»Die müssen Sie sich ansehen«, sagte Frau Jung. »Dort hängt auch ein Bild vom Frankenstein. Der Mielke hat auf das Frankensteinbild geguckt und sich Pläne ausgedacht, wie er seine Feinde internieren kann. Am liebsten hätte der Mielke die halbe Bevölkerung eingesperrt. Ja, da gab es Pläne, das wirklich zu tun.«
Kuballa ging hin, besuchte die Arbeitsräume von Minister Mielke und stellte fest, daß das Mielkebüro so ähnlich aussah wie das Keßlerbüro im Bunker von Harnekop. Ein bißchen Holz, ein bißchen Sprelacart, viel Beigebraun eben. Kleine Unterschiede gab es schon: Der eine Minister hatte mehr Telefone als der andere. Außerdem hatte sich Mielke neben dem obligatorischen Honeckerporträt noch besagtes Frankensteinbild zugelegt und dieses Werk im Konferenzsaal aufgehängt. Ein Bild aus dem Jahre siebenundsechzig.
Im Hintergrund, dachte Kuballa, sieht man das Brandenburger Tor. Der Blickfang. Die Mauer ist längst gebaut. Aber das sieht man nicht so deutlich. Die Soldaten im Vordergrund hingegen sind gut zu erkennen. Die Soldaten sehen harmlos aus. Sie scheinen den Kindern, die sich ebenfalls an diesem Ort eingefunden haben, die Weltgeschichte zu erklären.
Frau Jung meinte zu wissen, daß es sich bei dem Werk um eine Auftragsarbeit der Staatssicherheit gehandelt habe.
Der Mielke, dachte Kuballa, hatte Stil. Wer sich solche Bilder aufhängt, ist selbst ein großer Künstler. Die Bilder sind kraftvoll, jeder Pinselstrich wirkt wie ein Pfeil, der sich in mein Herz bohrt.
Kuballa betrachtete den verwaisten Saal. Auf den Konferenztisch hatte sich ein feiner Fettfilm gelegt. Es roch nach Vergangenheit. Kuballa meinte, daß das Frankensteinbild in dieser Umgebung nicht gut aufgehoben sei.
Er nahm ein Taschenmesser zur Hand, das er seit einigen Wochen mit sich führte und das mit der Inschrift allzeit bereit versehen war, und schnitt das Frankensteinbild aus dem Rahmen heraus. Da das Gemälde nicht gesichert war und demnach keine Alarmanlage losging, konnte Kuballa die ehemaligen Ministerräume in aller Seelenruhe verlassen.
Am vierten November achtundneunzig teilte die Behörde für Staatssicherheitsunterlagen dem überglücklichen Raimund W. Kuballa mit, daß er zu den üblichen Öffnungszeiten das Material, das ihn betreffe, anschauen und kopieren könne.
Ich wußte es, dachte er, da ist was. Die Kopien schicke ich gleich meinen Eltern.
Er fuhr mit dem Taxi zum Staatssicherheitsarchiv; statt den Aufzug zu nehmen, rannte er durch das Gebäude. Er lief in den dritten Stock, als könnte er doch noch zu spät kommen. Die Damen, die ihn schon kannten, bemühten sich zu lächeln, als er völlig außer Atem vor ihnen stand und mit dem Brief herumwedelte, den sie tags zuvor abgeschickt hatten.
»Kommen Sie mit«, sagte Frau Jung.
Und dann die Hiobsbotschaft: In seinem Ordner lag nur eine Postkarte, nämlich jene, die er auf der Klassenfahrt in Ostberlin dem Vorsitzenden des Zentralkomittees der Sozialistischen Einheitspartei geschickt hatte. Sonst nichts.
Die Karte, sagte die Behördendame, sei nicht verloren gegangen, weil er, Raimund W. Kuballa, damals seinen vollständigen Namen samt seiner Bonn-Bad Godesberger Adresse darauf notiert hatte.
Kuballa las, was er damals mit jugendlichem Elan geschrieben hatte, und er erinnerte sich sehr gut daran, daß er sich über den Service der Kellner im Palasthotel beschwert hatte.
»Und was ist das?« brüllte Kuballa und zeigte auf die Ansichtskarte. »Die Postkontrolle«, sagte die Behördendame, »hat hin und wieder zugeschlagen.«
»Wie bitte?«
Die Postkontrolle hatte Kuballas Text mit dem Vermerk Dummer Jungenstreich quittiert.
»Das kann doch gar nicht wahr sein«, meckerte Kuballa. »Ich meine, das ist doch nicht alles!«
»Wenn wir mehr gefunden hätten«, erwiderte die Behördendame, »würden wir es Ihnen geben. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich soll mich auf Ihre Behörde verlassen? Sie haben ja noch nicht einmal alle Bestände sortiert«, schrie er.
Kuballa raste.
Die Behördendame spulte einen Satz ab, den sie schon mehrere hundert Mal aufgesagt hatte: »Da die Erschließungsarbeiten entgegen der weit verbreiteten Meinung sehr weit fortgeschritten sind, ist davon auszugehen, daß auch in Zukunft keine weiteren Unterlagen zu Ihrer Person aufgefunden werden können.«
Ich war ein junger Sozialist in Bonn-Bad Godesberg, dachte Kuballa. Im Herzen Westdeutschlands. Im Zentrum des Klassenfeindes. Ich, der Sohn einer Wirtshausfamilie, der ich die Ministergeliebten und Staatssekretärstöchter bedient habe. Der angehende Superspitzel. Ich soll ein dummer Junge gewesen sein? Wenn hier jemand dumm war, dann die Postkontrolle.
Die Behördendame kopierte die Ansichtskarte.
»Bitte schön«, sagte sie.
Nachdem Kuballa die Behörde verlassen hatte, begann es zu regnen. Dicke Tropfen liefen ihm übers Gesicht, und es sah so aus, als würde Kuballa weinen.