Ein leichter Wind weht an diesem Morgen durch die Gassen der kleinen Hafenstadt. Und wer läuft gerade den Matrosenweg entlang? Ja, das ist Marte, die Tochter des letzten Fischräuchermeisters der Stadt! Sie wird gerade von ihrem Papa in den Kindergarten gebracht. Dass hier Vater und Tochter unterwegs sind, ist kaum zu erkennen: Denn Marte hat blonde, dichte und lange Haare, die mit mehreren bunten Spangen zusammengehalten werden. Papas Haare sind schon ausgefallen. Seine Glatze wird meistens von einer Kapitänsmütze bedeckt, obwohl er nie zur See gefahren ist. Wenn Marte lacht, und das tut sie häufig, formen sich ihre Wangen zu runden Apfelbäckchen. Papas Gesicht hingegen ist so schmal wie die Fische, die er räuchert.
Vor einer Woche hat Marte ihren fünften Geburtstag gefeiert. Marte meint, sie wäre jetzt alt genug, um allein in den Kindergarten zu gehen. „Ich kenne hier doch jeden Stein“, sagt sie. Aber ihre Eltern sehen das etwas anders. Morgens übernimmt Papa den Begleitdienst, am Nachmittag holt Mama sie vom Kindergarten ab.
Es ist Sommer, und Marte trägt zu ihrer blauen Lieblingsbluse einen weißen Rock. Blau ist Martes Lieblingsfarbe. Am liebsten würde sie ihre blaue Lieblingsbluse zusammen mit ihrem blauen Lieblingsrock anziehen. Aber das will Mama nicht. Erwachsene, denkt Marte, haben wirklich komische Vorstellungen davon, was schön sein soll. Zum Beispiel Papa. Der trägt ein grün-braun gestreiftes Hemd zu einer grauen Cordhose. Ist das schön?
„Ist heute Chorstunde im Kindergarten?“ fragt Papa. Marte nickt und summt ein Seemannslied, das sie für einen Auftritt üben. Die Melodie kann sie schon fast auswendig, nur der Text ist etwas schwierig. Aber es ist ja auch ein englisches Seemannslied! denkt Marte, beendet ihr Summen und beginnt, auf ihrem rechten Bein zu hüpfen. Einfach nur zum Kindergarten laufen, denkt sie, ist doch langweilig.
„Papa, was machst du heute den ganzen Tag?“ will Marte wissen. „Ich werde Dorsch räuchern und natürlich wieder viele Sprotten.“, antwortet er mit tiefer Stimme. Marte erinnert sich, wie Papa ihr erklärt hat, warum die Fische in den Rauch gehängt werden und wie der Rauch die Farbe der Fischhaut verändert. Sie lächelt verschmitzt. „Das wird eine schöne Geschichte“, sagt Marte. Papa hat natürlich keine Ahnung, was sie sich gerade ausgedacht hat.
Der Kindergarten liegt direkt am Hafen. Bevor Marte in den Garderobenraum läuft, schaut sie noch einmal hinüber zu den Möwen, die über den Fischerbooten kreisen. Ob die kleinen Vögel jetzt auch in den Möwenkindergarten gehen, fragt sie sich. In diesem Moment erreicht der Kutter von Onkel Lars die Hafeneinfahrt. „Da bin ich mal gespannt, welche Fische er mir heute liefert“, sagt Papa. „Hoffentlich viele Sprotten“ sagt Marte und kichert.
Papa sagt: „Jetzt habe ich doch glatt das Anmeldeformular für den Ausflug ins Meermuseum vergessen!“ Aber Marte beruhigt ihn. „Du kannst die Anmeldung“, sagt sie, „die ganze Woche lang abgeben.“. Schnell zieht sich Marte die Hausschuhe an, gibt Papa noch einen Kuss und läuft in den Raum der Seesterngruppe. Dort spielen schon ihre Freunde Lasse und Leni.
„Ruhe, Ruhe!“ ruft Frau Lorenzen. Sie ist die Leiterin der Seesterngruppe, und Marte weiß genau, was jetzt kommt: Auf den Stuhlkreis hat sich Marte schon gefreut. „Was habt ihr denn am Wochenende erlebt?“ fragt Frau Lorenzen, als alle Kinder im Kreis sitzen.
Lasse erzählt vom Besuch der Oma. Leni war im Zoo. Sarah berichtet, dass ihre Eltern sich das ganze Wochenende gestritten haben. Und endlich ist Marte an der Reihe. „Mein Papa hat mir gezeigt, wie er Silber in Gold verwandelt“, beginnt sie, aber schon lachen ein paar Kinder. „Das glaube ich nicht!“ meckert Ole, und auch Frau Lorenzen runzelt die Stirn.
Auf diesen Moment hat Marte gewartet. Sie stellt sich auf den Stuhl und ruft in den Kreis: „Ja, aus Silber wird Gold, und wenn ihr mal zuhören würdet, kann ich euch das auch erklären.“ Doch die Kinder grinsen und johlen. Auch Martes beste Freundin ist verunsichert „Stimmt das wirklich?“ fragt Leni. Dann steht Frau Lorenzen auf, klatscht in die Hände, und es ist wieder Ruhe in der Seesterngruppe.
Jetzt darf Marte endlich ausreden. „Wisst ihr, was Sprotten sind?“ fragt sie mit lauter Stimme. Die meisten Kinder haben die kleinen Fische in den Auslagen der Fischgeschäfte oder auf dem Tisch der Eltern schon mal gesehen. „Ja, das sind die Fische, die gar nicht schmecken “, sagt Ole.
„Wenn die Sprotten gefangen werden“, erklärt Marte und hebt den Zeigefinger, „dann ist das Fischchen noch silberfarben. Aber wenn mein Vater die Sprotten räuchert, dann entsteht eine goldene Haut.“ Frau Lorenzen lächelt, und Lasse bestätigt, dass die Sprotten, die sein Vater mag, tatsächlich goldfarben sind. „Sprotten gibt es bei uns oft zum Abendessen“, sagt er. „Aber ich wusste nicht, dass die vor dem Räuchern ganz anders aussehen.“
„Ist die Haut aus echtem Gold?“ will Ole nun wissen, und einen Moment lang überlegt Marte, was sie sagen soll. „Nee, nee“, antwortet sie schließlich. Das sieht nur so aus. Mein Vater nennt die Sprotten aber trotzdem Meergold.“
Obwohl es zum Mittagessen im Kindergarten Spaghetti Bolognese gibt, reden alle über die goldenen Sprotten. Es geht längst nicht mehr nur um die Farbe der Fischhaut, sondern auch darum, ob man die Sprotten mit Kopf, Schwanz und Gräten verzehrt. „Gräten?“ kreischt Sarah. „Die kann man doch nicht essen!“
Frau Lorenzen sagt, dass die Sprotten so weiche Gräten haben, dass man sie auch mitessen kann. „Kopp un Steert sünt nix weert“, ruft Lasse. Das war Plattdütsch, und für alle Kinder, die Lasses Dialekt nicht verstanden haben, übersetzt Frau Lorenzen: „Kopf und Schwanz dürfen weggeworfen werden.“ Marte lacht. Bei Lasse hörte sich das lustiger an.
Am Nachmittag unternehmen alle Kindergartenkinder einen Ausflug zu Papas Fischgeschäft. Frau Lorenzen kauft eine Handvoll frisch geräucherter Sprotten. Papa packt die Fische ein und bietet den Kindern eine Führung durch die Räucherei an.
In einem großen Raum liegen frische Fische in großen Plastikboxen. Papa erklärt, wie die Fische heißen. Dorsch, Scholle, Seelachs und Rotbarsch. „Schaut mal“, ruft Marte plötzlich. „Hier liegen die Sprotten.“ Fasziniert von den Silberfischchen, fragt Sarah: „Darf ich mal anfassen?“ Sarah darf.
Nach der Führung durch die Räucherei gehen alle Kinder zum Strand. Und dort gibt es ein Sprottenpicknick. Frau Lorenzen erklärt, wie man den goldenen Minifisch isst. „Ich nehme die Sprotte zwischen Daumen und Zeigefinger, drücke leicht gegen Bauch und Rücken, und dann kann der Schwanz mit der Hauptgräte herausgezogen werden!“
„Oh, wie eklig!“ findet Ole. Marte schüttelt den Kopf. „Du hast noch gar nicht probiert“, sagt sie. Auch Leni und Sarah zögern. Lasse ist mutiger: „Die sind superlecker. Darf ich?“ Lasse darf. Und Marte? Sie steckt sich die nächste Sprotte natürlich mit Kopf, Schwanz und Gräte in den Mund! Was Ole sehr beeindruckt. „Das hätte ich dir gar nicht zugetraut“, sagt er. Jetzt will er doch noch eine Sprotte probieren. Alle schauen ihn an. Er verdreht die Augen und ruft schließlich: „Mmh. Lecker!“